Yokohama Kaidashi Kikou ist, wenn es um dystopische Titel geht, wahrlich ein Kleinod in der Masse der japanischen Popkultur. Anders als im Medium üblich zeigt es zwar auch das Leben nach einer Katastrophe – allerdings im ruhigeren Stil wie etwa Girl’s Last Tour. Was diesen Iyashikei-Titel so besonders macht, möchte ich hier zeigen.
Iyashikei: Eine Begriffserklärung
Noch nie von Iyashikei gehört? Kein Problem! Hinter dem japanischen Begriff verbirgt sich die lose Übersetzung von „Heilung“. Am ehesten lässt sich der Begriff aber mit „wohlfühlend“ erklären. Ab Mitte der 1990er-Jahre als Bezeichnung für entspannende Werke verwendet, ist der Ursprungg wohl vor allem ein Resultat aus dem japanischen Leistungsdruck sowie dem Wachstum der japanischen Industrie und den Wohnsituationen in den Großstädten.
»Yokohama Kaidashi Kikou« spielt viele Jahre in der Zukunft. Aufgrund einer nicht näher benannten Katastrophe starb der Großteil der Menschheit und die Zivilisation pendelte sich auf einem niedrigeren Niveau ein. Große Städte existieren nicht mehr, Hochtechnologie nur noch in vereinzelten Bereichen und die Menschen verbringen ein beschauliches Leben, in dem sie ihren alltäglichen, eher einfachen, Arbeiten nachgehen, während der Meeresspiegel langsam aber stetig weiter ansteigt und die Natur immer weiter Gebiete zurückerobert.
In dieser beschaulichen Zeit betreibt Alpha Hatsuseno ein kleines Café auf dem Land. Sie bedient die nur sporadisch vorbeikommenden Gäste, genießt selbst eine Tasse Kaffee, unterhält sich mit den wenigen Nachbarn oder unternimmt Fototouren in der Umgebung. Das sind alles alltägliche Dinge, sodass man nicht vermuten würde, dass es sich bei ihr um einen Roboter handelt, der auf die Rückkehr seines Besitzers wartet. Auf sich allein gestellt genießt sie nun ihre Freiheit und versucht ihr Leben bestmöglich auszufüllen, während ihre Umgebung vom langsamen Niedergang der menschlichen Zivilisation zeugt. Synopsis von aniSearch.de
„Ich denke, ich werde diese Welt des Zwielichts weiter beobachten, solange die Zeit reicht.“
Katastrophen jeglicher Art verändern nicht nur den Menschen. Auch die Umgebung passt sich den Widrigkeiten an. Die Umweltkatastrophe in Yokohama Kaidashi Kikou zeigt allerdings, dass der Schauplatz im namensgebenden Yokohama mehr ist, als nur eine Kulisse. So hat der steigende Meeresspiegel die Karte neu gezeichnet – frühere Küstenstraßen sind jetzt Teil eines Strandes, es existieren von Gras umgebene Tümpel und andere liegen komplett unter Wasser. Selbst der für Japan ikonische Berg Fuji sieht anders aus. Auch die Tierwelt verändert sich. Es gibt fliegende Fische, Früchte wachsen unnatürlich riesig. Neue Tierarten erscheinen, die den Homo Sapiens nachahmen.
Das Ganze liest sich wie ein Horror-Titel, und ja, es würde sich perfekt in so einem Szenario etablieren können. Die Atmosphäre von Yokohama Kaidashi Kikou ist allerdings etwas komplett Eigenes. Es wird Hoffnung versprüht, gleichzeitig wird eine Nostalgie an die vergangene Zeit erzeugt. Mystery-Elemente werden eingebaut. Apropos Ereignisse: Im Laufe der 14 Bände umfassenden Geschichte gibt es nur zwei Situationen, die eng mit dem Wetter, also der Ursprungssituation, zusammenhängen.
Alle anderen Momente in der Geschichte von Alpha widmen sich kleinen, alltäglichen Dingen. Der Manga liest sich wie ein Tagebuch. Immer im Fokus: die Kamera von Alpha, um jene Momente in Form von Bildaufnahmen immer wieder zu erleben. Und es zeigt, wie kostbar die Zeit der Menschen ist.
„Mein Platz ist das Café Alpha. Die Dinge, die ich gesehen habe, und alle, die ich kennengelernt habe, werde ich nie vergessen.“
Alpha macht sich auf eine Reise und muss ihr Café wiederaufbauen, doch bleibt sie nicht die einzige Hauptfigur. Dabei ist sie handlungstechnisch durchaus eng mit den anderen Figuren verknüpft, egal ob es sich dabei um die eigenen Lebensentscheidungen oder dem Erkunden der eigenen Umgebung handelt. Die Geschichte lehrt, das Hier und Jetzt zu schätzen. Einsamkeit, aber auch Gesellschaft zu genießen. Alles hat ein Anfang und ein Ende, ganz im Kontrast zur „unsterblichen“ Alpha, denn diese wird mit ihrer Kamera zum Beobachter. Alle Charaktere im Manga verändern sich. Alpha aber nicht.
Am Ende bleiben die vielen Schicksale ungelöst. Die Zukunft dieser Welt bleibt genauso ungewiss wie ihre Vergangenheit. Lediglich die erlebten und just gelesenen Momente bleiben uns, der Leserschaft, in Erinnerung.
Die Geheimnisse dieser Welt sind nicht so bedeutsam wie die Antworten, die der Leser findet. Die Apokalypse markiert das Ende einer Perspektive genauso wie das Ende der Welt. Der bekannte Spruch „Es ist einfacher zu zerstören als zu erschaffen“ vergisst oft, dass jede Schöpfung auch eine Art der Zerstörung ist – eine bewusste Entscheidung, eine Realität zu gestalten und alle anderen Möglichkeiten auszuschließen.
Ein langsames Tempo ist immer noch ein Fortschritt. Selbst in einer Welt der alltäglichen Momente, wo man sich in den wiederkehrenden Handlungen und Stimmungen verlieren kann, entwickeln sich die Menschen weiter. Selbst in der Unsterblichkeit hört die Wahl des Wachstums nie auf.
Yokohama Kaidashi Kikou, erschienen zwischen 1994 und 2006 und abgeschlossen in 14 Bänden. Seven Seas Entertainment veröffentlicht den Titel seit 2022 als Deluxe Edition (3in1) für 16,99 $ bis 24,99 $.