Visual Kei: Vom Dauerbrenner zur Nische

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Bevor sich das Internet etablierte, war es für Fans der japanischen Kultur schwer, an die neuesten Trends und Bands zu kommen. Vieles verbreitete sich über Mundpropaganda, und die begrenzte Bandbreite des Internets wurde genutzt, um Musik (oder Anime) illegal über File-Sharing-Programme herunterzuladen. In diesem Beitrag geht es um Visual Kei, eine Bewegung aus Japan, die um 2008 in Deutschland ihren Höhepunkt erreichte, und was davon im Jahr 2020 übrig geblieben ist.

Aber zuerst: Was ist Visual Kei überhaupt?

Ursprung des Visual Kei in Japan

Visual Kei (zusammengesetzt aus dem englischen Begriff „visual“ und dem Zeichen „系“ ‚kei‘ (Herkunft, System)) entstand um 1982 in Japan. Es ist eine Bewegung, die westliche Musik im Stil von Aerosmith (Hard Rock), Twisted Sister (Heavy Metal), Mötley Crüe (Glam Metal) und KISS (Hard Rock) mit einer schrillen Optik und klassischen japanischen Elementen wie Enka und Kaykyoku vereint. Eine der bekanntesten Musikgruppen, die als Wegbereiter des Visual Kei gelten, sind X Japan. Allerdings gab es mit Bands wie 44 Magnum, Seikima-II und Flatbacker weitere Künstler, die im gleichen Zeitraum diese Idee verfolgten. Die Musiker wurden durch das in Japan streng geregelte Schul- und Arbeitsleben angestoßen, das nur während des Studiums und in der Freizeit gewisse Freiräume bei der Bekleidung erlaubte. Viele dieser Regelungen (wie zum Beispiel der Zwang, die Haare zu färben) existieren auch heute noch. Mit dem Drang zur außergewöhnlichen Kleidung und dem extremen Schminkstil wollten die Künstler dem japanischen Standard entfliehen und ein individuelleres Leben führen.

Das zeigt sich aber nicht nur im Kleidungsstil. Auch die Musik des Visual Kei ist extrem vielseitig. Es gibt Einflüsse von Glam Metal wie Mötley Crüe, Industrial wie Nine Inch Nails und auch von extremeren Musikrichtungen wie Death Metal. Visual Kei erlangte vor allem in den 90ern in Japan größere Bekanntheit durch erfolgreiche Bands wie Luna Sea und Malice Mizer. Diese haben es geschafft, neben der Musik auch Modetrends in Japan zu etablieren.

Visual Kei als Oberbegriff

Doch wie sieht Visual Kei aus? Was sind die modischen Besonderheiten?

Auffallende bunte Frisuren, Lack- und Lederkleidung, jede Menge Schminke, farbige Kontaktlinsen und auch Kleider und Miniröcke sind die Merkmale einer typischen Visual Kei-Band. Außerdem sind die Bandmitglieder oft androgyn gekleidet. Androgynie ist hierbei das Zauberwort: Es werden männliche als auch weibliche Merkmale vereint, die nicht nur die körperlichen Merkmale betreffen; auch die Wahl der Kleidung spielt eine große Rolle. So ist es wie in der Gothic-Szene nicht unüblich, dass ein Mann als Fan im Visual Kei einen Rock trägt.

Wenn man Fans fragt, wie Visual Kei aussehen soll, gibt es keine eindeutigen Antworten: Praktisch alles, was einem gefällt, kann und darf getragen werden.

Der Hype in Japan erreicht verspätet auch den Westen

Während Visual Kei zwischen 1990 und 2000 in Japan seine Höhepunkte erreichte, war das Thema im gleichen Zeitraum im Westen nur den allergrößten Japanfans vorbehalten. PCs waren in diesen Jahren ein Luxusgut und dementsprechend war auch das Internet in den Kinderschuhen. Interessierte konnten nur über überteuerten Import von Kassetten oder (japanischen) Magazinen an Informationen gelangen. Das änderte sich nach 2000 drastisch: Der japanbegeisterte Vernetzte sich zunehmend und viele Foren und Treffen wurden organisiert. Bedingt durch das Interesse an japanischer Popkultur kamen viele Fans frühzeitig zum Visual Kei. Das zeigt sich auch im Google-Trendverlauf:

 

Vergleicht man die weltweite Nachfrage mit der japanischen Suchhäufigkeit, erkennt man, dass diese in Japan stets auf einem gleichbleibenden Niveau gehalten wurde. Erst ab 2018 wurde ein aufkommendes Desinteresse festgestellt. Der japanische Höchststand von 2005/2006 lässt sich noch als Überbleibsel der 1990er Jahre erkennen, aber auch dem großen Schub der japanischen Musikindustrie in den Westen ist dies zu verdanken. Denn diese hat das aufkommende Interesse im Ausland bemerkt und ihre Künstler in den folgenden Jahren zu Konzerten und Festivals nach Deutschland geschickt.

Visual Kei in Deutschland: Vom Insidertipp zum Massenphänomen

Wie überall im Westen hatte Visual Kei um 2008 seinen Hype-Höhepunkt in Deutschland. Mit der ebenfalls stattfindenden Begeisterung für das Emo-Genre sowie die Gothic-Bewegung hatte man bei Internettreffs oftmals eine kunterbunte Mischung an nicht nur Japan-Begeisterten.

 

Unterstützt wurde das Ganze nicht nur durch den Zuwachs des Internets, sondern auch durch die damals auflagenstarken Jugend-Printmedien, die dem Visual Kei einen Bekanntheitsgradbonus verschafften. Zeitschriften wie die BRAVO (Bauer Media), YAM! (Axel-Springer) oder Popcorn (Egmont) berichteten immer mehr über die schrillen Outfits und vollen Konzerthallen von Gruppen wie D’espairsRay, Dir en Grey oder Gackt.

Doch damit nicht genug: Der Trend war so stark, dass es sogar deutsche Vertreter des Visual Kei gab, wie beispielsweise Cinema Bizarre. Und das war recht erfolgreich, denn trotz Kontroversen innerhalb der Szene („J-Rock aus Deutschland ist kein J-Rock“) erhielt das Debütalbum der Gruppe eine Top-10-Platzierung und eine goldene Schallplatte.

Noch bekannter aus diesem Bereich ist Tokio Hotel. Auch wenn die Meinungen über die Gruppe heftig diskutiert wurden, ist der Einfluss des Visual Kei bei der Band gerade zu Anfangszeiten unverkennbar.

Übrigens: Viele Visual Kei-Bands verdanken ihren Erfolg auch Anime-Serien. Eine Auswahl an Visual Kei Bands und deren Liedern in Anime-Serien:

  • Death Note (Nightmare – The WORLD)
  • Bleach (Sid – Ranbu no Melody)
  • Katekyō Hitman Reborn! (LM.C – Boys and Girls)
  • New Fist of the North Star (Gackt – Lu:Na)
  • Yu☆Gi☆Oh! Zexal (Golden Bomber – Boku Quest)
  • Grappler Baki (Dir en Grey – Child Prey)
  • Black Butler II (the GazettE – SHIVER)
  • Darker than Black (An Café – Kakusei Heroism)

Die Schattenseiten des Hypes

Gerade der Bekanntheitsgrad der Band Tokio Hotel verschaffte dem Visual Kei einen Schub in der Popularität unter Jugendlichen. Aber auch das hat seine Schattenseiten, denn durch die schrillen Outfits wurde man sehr schnell zum Hingucker. Auf Plätzen wie Pausenhöfen bildeten sich schnell Cliquen und so konnten Fans des Visual Kei schnell zu Opfern werden. Ausgrenzung war nur eine der „harmloseren“ Folgen.

Größter Angriffspunkt: die Optik. Auch damals in den Foren herrschte eine toxische Atmosphäre, wenn es um den Trend Visual Kei ging. Dabei ging es nicht einmal um die Musik, lediglich das feminine Aussehen der Männer war erfahrungsgemäß das größte Problem.

Auch bei den vermeintlich Gleichgesinnten gab es oft Meinungsverschiedenheiten. Der stark auftretende (westliche) Trend des Emo, aber auch der Goth, wollte oftmals nicht mit Visual Kei in Verbindung gebracht werden. Viele Fans ließen sich davon jedoch nicht abhalten und feierten weiterhin mit aller Kraft ihre Favoriten und Idole.

Innerhalb kürzester Zeit verflog der Trend

Viele dachten, dass der Trend sich langfristig in der Jugendkultur etablieren würde. Der Hype war zu groß. Selbst etablierte Zeitungen wie die Süddeutsche Zeitung und die Metal-Hammer berichteten über das Thema. Und dennoch geschah es: Innerhalb kurzer Zeit sank die Anzahl der Fans wieder auf ein Minimum. Woran könnte das liegen?

  • Menschen wachsen aus solchen Themen heraus. Das ist nicht nur bei Visual Kei ein Problem. So gut wie jedes popkulturelle Medium (auch Anime/Manga/Gaming) hat Menschen, die sich stark in das Thema reinsteigern, nur um nach einer gewissen Zeit das Interesse zu verlieren. Sei es das Ende der Pubertät oder das Interesse an anderen Hobbies. Für viele bleibt es auch rückblickend eine Phase.
  • Überflutung der Musik. Visual Kei ist vor allem durch die Musik bekannt geworden. Was machen große Musikfirmen, wenn ein Genre besonders hervorsticht? Wie auch in der Emo/Post-Hardcore-Zeit nach 2008 galt bei Visual Kei: Hauptsache mehr! Es wurden schnell Bands gegründet, diese anschließend im Westen vermarktet und dann wie ein Sack Kartoffeln beiseitegelegt. Dementsprechend war die Rate an Musikgruppen, die sich in kürzester Zeit auflösten, riesig. Nur wenige Gruppen überlebten diese Zeit und wandten sich komplett vom Visual Kei ab.
Musikalischer Einheitsbrei
  • Viele Bands besaßen keinerlei Konzept. Der Trend wuchs so schnell, dass zwar für musikalischen Nachschub gesorgt wurde, allerdings gab es ein Problem, welches der heutige K-Pop zum Beispiel nicht hat: die richtige Vermarktung. Nur sehr wenige Musikgruppen hatten eine Idee oder ein Alleinstellungsmerkmal, das sich von anderen Bands abhob. Es war schlichtweg Visual Kei. Mehr nicht. Es fehlte den Mitgliedern oft an einem Promoter oder einer PR-Agentur, um ihre Musik zu vermarkten.
  • Auch Musikgruppen entwickeln sich musikalisch weiter. Wie bereits erwähnt, gab es nach dem langsamen Abstieg des Trends immer mehr Gruppen, die sich auflösten. Jene, die weitermachten, entwickelten sich nicht nur musikalisch weiter. Auch optisch wurde dem Visual Kei weitestgehend der Rücken gekehrt (siehe Dir en Grey).

Visual Kei im Jahr 2020: nicht tot, aber unauffälliger

Machen wir nun einen Zeitsprung in das Jahr 2019/2020. Geht man auf Anime-Conventions, ist Visual Kei noch durchaus vorhanden, allerdings im Vergleich zu regulärem Cosplay nur eine Randnotiz. Musikalisch sind bei Visual Kei weniger Bands vorhanden als noch vor 15 Jahren, sprudeln diese aber vor Kreativität über und es gibt weiterhin Veröffentlichungen in praktisch jeder Richtung. So gibt es zum Beispiel Bands wie Deviloof und Nocturnal Bloodlust, die Visual Kei mit dem Deathcore-Genre vermischen. Und auch die Community ist noch aktiv, wenn auch weitaus weniger auffällig als damals.

Einer der Gründe, weshalb man als ehemaliger Fan denken könnte, dass Visual Kei tot sei, ist die Faulheit. Man erinnert sich an die Bands, die man damals verfolgt hat. Viele haben sich entweder dem Genre abgewendet oder sind aufgelöst worden. Die Lösung wäre natürlich, auf Eigenverantwortung zu setzen und nachzuforschen. Aber auch wie bei Anime-Empfehlungen abseits des Tellerrandes macht das praktisch niemand. Und plötzlich gilt Visual Kei für viele als „tot“. Obwohl es das definitiv nicht ist.

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