Mugen no Ryvius ist eine 1999 erschienene Sci-Fi/Drama-Serie, produziert vom Animestudio Sunrise. Der Anime gilt als Geheimtipp für jene, die charakterbezogene Geschichten lieben. Doch was bedeutet das? Welche Merkmale zeichnen solche Animes aus? Das möchte ich in diesem Beitrag erläutern.
Mugen no Ryvius (Infinite Ryvius auf Englisch) spielt im Jahr 2225. Die Menschheit hat inzwischen das Sonnensystem besiedelt, ausgelöst durch das Auftreten von „Geduld“, einem See aus Plasma im Weltall, der durch seinen Druck alles zerstört, was zu tief in ihn eintaucht.
Kouji Aiba tritt gemeinsam mit seinem Bruder Yuuki und seiner Kindheitsfreundin Aoi eine Ausbildung zum Level 2 Piloten auf der Raumstation „Liebe Delta“ an. Während eines Tauchversuchs in „Geduld“ sabotieren unbekannte Terroristen die Maschinen und töten die Erwachsenen an Bord der Raumstation. Die Schüler sind nun auf sich allein gestellt und versuchen der Zerstörung durch „Geduld“, sowie der Verfolgung durch die Terroristen zu entgehen.
Hinweis: Spoiler-Warnung! Ich werde auf verschiedene Aspekte des Animes eingehen und die Persönlichkeiten der Charaktere beschreiben. Ich werde versuchen, möglichst vage zu bleiben, aber sei trotzdem gewarnt.
Ersteindruck? Noch ein weiterer Neon Genesis Evangelion-Klon!
Schaut man sich die Bilder des Animes an und liest die Beschreibung erneut durch, erkennen pfiffige Anime-Fans: „Ha! Das kenne ich doch!“ Und tatsächlich: Mugen no Ryvius scheint auf den ersten Blick einer der vielen (nicht-)Mecha-Anime zu sein, die auf der Welle des wegweisenden Titels von 1995 mitschwimmen wollten. Doch das war es auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Denn Mugen no Ryvius biegt in die gleiche Richtung wie Neon Genesis Evangelion ab, nimmt jedoch noch eine andere Richtung ein und hat am Ende trotz großer Ähnlichkeiten seinen eigenen Weg genommen.
Westliche Literatur beeinflusste den Schöpfer von Mugen no Ryvius
Denn genau wie Neon Genesis Evangelion ist Mugen no Ryvius ein Originalwerk. Der Anime wurde im Studio Sunrise von Grund auf ausgedacht und produziert. Gorō Taniguchi führte Regie, während Yōsuke Kuroda und Yūichirō Takeda das Drehbuch schrieben und somit die Idee von Hajime Yatate umsetzten. Yatate hat sich dabei von einem damals 45 Jahre alten Roman inspirieren lassen. Herr der Fliegen von William Golding (engl. Lord of the Flies) erschien 1954 und erzählt die Geschichte einer Gruppe von Kindern (12-14 Jahre), die auf einer einsamen Insel stranden. Abgeschottet von den Erwachsenen und der menschlichen Zivilisation verlernen die Kinder im Laufe des Buches ihre erlernten Regeln und agieren entsprechend ihres Charakters. Es entsteht eine Entfremdung der eigentlich für Kinder angedachten sozialen Entwicklung.
Du hast’s gewusst, wie? Dass ich ein Teil von euch bin, von ganz innen, innen, innen? Dass ich daran schuld bin, wie’s gekommen ist? Innen war alles dunkel, von einer Schwärze, die sich ausdehnte. Und wir waren jetzt im Maul. Wir fielen und fielen und verloren das Bewusstsein…
– William Golding, Herr der Fliegen
Lord of the Flies in Space
Basierend auf dieser Idee wurde Mugen no Ryvius geschrieben. Im Anime geht es jedoch nicht um eine einsame Insel, sondern um ein Raumschiff im Weltraum. Zwar gibt es anfangs Erwachsene, diese werden jedoch für einen politischen Krieg ermordet. Das Alter der Charaktere in Mugen no Ryvius liegt zwischen 14 und 17 Jahren. Und genau das ist einer der Faktoren, die die größte Stärke der Serie ausmachen: Durch das junge Alter der Charaktere können Gefahren und Konflikte entstehen, die einer älteren Person nicht passieren würden. Dies ist auch der Grund, warum Charaktere wie Shinji aus Neon Genesis Evangelion so einzigartig sind, da sie sich altersgemäß verhalten. Auch in Mugen no Ryvius werfen die Kinder nach und nach ihre angelernte Ethik und Moralvorstellungen ab.
Jeder Charakter auf der Ryvius (so der Name des Schiffes) muss sich mit dieser Situation auseinandersetzen. Natürlich gibt es am Anfang feste Gruppen, wie etwa die Flugbegleiter-Azubis oder die anfänglichen Antagonisten in Form der Gruppe von Airs Blue, die ihre eigenen Prinzipien schnellstmöglichst zeigen und durchsetzen wollen. Aber nicht nur die Hauptcharaktere müssen sich dieser Problematik stellen, sondern auch die restlichen Kinder auf dem Schiff.
Charakterfokussierte Titel haben in diesem Szenario einen Vorteil
In einem älteren Artikel mit dem Titel „Wie eine Welt Geschichten erzählen kann“ habe ich mich mit dem Worldbuilding befasst, das oft auch eine Geschichte zu erzählen hat. Es gibt vier Arten, eine Geschichte zu schreiben:
- Storyfokussierte Geschichten (Monster)
- Weltenschreibende Geschichten (Shinsekai Yori)
- Charakterfokussierte Geschichten (Monogatari Series, CGDCT-Anime)
- Eine Mischung aus allem (HunterxHunter)
Natürlich gibt es auch Mischformen, die versuchen, alle drei Punkte zu vereinen. Grundsätzlich können die Punkte wie folgt erklärt werden: Bei storyfokussierten Geschichten müssen die Charaktere Entscheidungen treffen, die im Mittelpunkt stehen. Bei charakterbezogenen Geschichten werden die inneren Konflikte des Charakters gezeigt, die ihn dazu bringen, Entscheidungen zu treffen. Und genau das geschieht in Mugen no Ryvius während der 26 Episoden beinahe durchgehend. Während die Geschichte um die Ryvius und die Terroristen nur oberflächlich behandelt wird, sieht man als Zuschauer, wie Kinder konfliktreiche Entscheidungen treffen müssen, inklusive der weitreichenden Konsequenzen.
Ein gutes Beispiel hierfür sind die eingangs genannten Flugbegleiter-Azubis. Am Anfang beanspruchen sie die Führungspositionen für sich, etwa als Kapitän inklusive militärischer Rangordnung (Leutnant, etc.). Diese Grundordnung steht jedoch von Anfang an auf wackeligen Beinen und mit weiteren storybedingten Ereignissen, die durch andere Charaktere auf dem Schiff hervorgerufen werden, muss die Gruppe ihre Ansichten und Differenzen we
Großer Charaktercast zeigt viele (innere) Konflikte
Die Azubis, die die vermeintlichen Anführer sind, bestehen selbst aus einer Gruppe von 5-8 Personen. Dazu kommen noch eine weitere Anzahl an Haupt- und Nebencharakteren, die ihre Rolle ständig wechseln. Mugen no Ryvius schafft den Spagat, beinahe jedem Charakter eine wichtige Rolle in der Geschichte zu geben. Figuren, die entweder nur am Rande erscheinen oder One-Liner verwenden, haben später Storymomente, die man in anderen Anime nur den Hauptcharakteren geben würde. Dadurch entwickelt sich im Schiff eine Eigendynamik, denn jeder Mitstreiter auf der Ryvius agiert weitgehend unabhängig bzw. der Gruppe entsprechend.
Eine der immer wiederkehrenden Ereignisse auf der Ryvius sind die Treffen aller an Bord befindlichen Charaktere, um den aktuellen Status, wie etwa den Vorrat an Nahrung, zu erfahren. Diese Treffen werden von der „Führung“ als sehr wichtig angesehen, und so gibt es immer wieder Konflikte, die in diesen Treffen ausgetragen werden. Wie es sich für so etwas gehört, nehmen diverse Charaktere daran teil – oder eben nicht. Es wird glaubhaft vermittelt, warum die Personen nicht anwesend sind.
Gorō Taniguchi schafft es, von Anfang bis zum (gelungenen) Ende der Serie zu zeigen, wie sich die Gruppendynamik durch kleinste Ereignisse von Charakteren verändern kann. Denn auch auf der Ryvius kommt es irgendwann zum Moment, in dem die eigene Stärke demonstriert wird – im Anime wird es vor allem durch die einzige Waffe des Schiffes dargestellt.
(Audio-)visuelle Stärken untermauern die Stimmung
Natürlich kann ein Anime aus dem Jahr 1999 optisch nicht mehr ganz mithalten. Trotzdem lässt sich die Serie auch 21 Jahre nach der Ersterscheinung immer noch gut anschauen. Denn trotz des soliden Budgets hat Sunrise diverse Kniffe verwendet, um eine passende Atmosphäre zu erschaffen. So besitzen die Charaktere (mit einer Ausnahme) ein realistisches Aussehen, ohne farbliche Experimente. Auch die Farbpalette des Raumschiffs ist entsprechend grau und trist gehalten, manchmal zu monoton. Diese Monotonie verwendet das Studio Sunrise allerdings, um die Stimmung des Zuschauers zu beeinflussen. Diverse Szenen der Handlung spielen extra in dunkleren Gegenden des Schiffes, um die Stimmung der Charaktere widerzuspiegeln.
Während der Fokus auf Charakteren und der düsteren Atmosphäre liegt, gibt es oft einen Kontrast. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Dramen wurde bewusst entschieden, eine Mischung aus westlichem R&B, Hip Hop sowie J-Pop zu verwenden. Dadurch wird der Atmosphäre eine weitere Komponente hinzugefügt. Das Audiodesign ermöglicht es, surreale und fast schon an Comedy erinnernde Töne hinzuzufügen. Trotzdem sind diese psychedelisch anmutenden Szenen passend, denn durch den Einfluss von Jazz ergibt sich dadurch ein rundes Erlebnis.
Eine Reise gegen bekannte gesellschaftliche Strukturen
Alles zusammen ergibt bei Mugen no Ryvius eine Serie, die definitiv nicht für jeden Anime-Fan gedacht ist. Hier gibt es trotz (seltener) Mecha-Kämpfe keinen Fokus auf Maschinen oder gar ein Effektspektakel. Es gibt hier auch kein klassisches Gut oder Böse; jeder Charakter bewegt sich realistisch auf der Ryvius. Vor allem ist es keine Serie zum Nebenbei-Schauen, sie erfordert ein Maß an Konzentration. Trotzdem wird es nicht viele Fans geben, die sich dieses – in meinen Augen – grandiose Werk anschauen werden. Denn aufgrund des Alters und der nicht legalen Verfügbarkeit wird es dieser Anime nicht weit schaffen, um Fans von The Promised Neverland, Bokurano oder Kokoro Connect zu erreichen.