Chainsaw Man gilt bei vielen Manga-Fans als DER Shōnen-Manga schlechthin. Egal in welcher Community man schaut, man findet praktisch nur lobende Worte für Tatsuki Fujimotos blutige Dämonenjagd. Passend zur kommenden Anime-Adaption von Studio MAPPA möchte ich einen Blick auf das Werk werfen und zeigen, weshalb die Begeisterung so groß ist.
Der Text enthält Spoiler zum ersten Manga-Band bzw. der ersten Episode vom Anime.
Grundlegende Informationen zum Titel
Denjis größter Wunsch ist es, ein ganz normales Leben zu führen. Doch er hat von seinem Vater nichts als Schulden bei der Mafia geerbt. Als Denji dem kleinen Teufel Pochita das Leben rettet, schenkt dieser ihm die Fähigkeit, sich in den Chainsaw Man zu verwandeln. Es dauert nicht lange, bis die Regierung auf den Jungen mit der Kettensäge als Kopf aufmerksam wird… (Produktbeschreibung von Egmont Manga)
Tatsuki Fujimotos (*1992 oder 1993) Chainsaw Man erschien zwischen Dezember 2018 und Dezember 2020 in der renommierten Weekly Shōnen Jump, der Heimat großer Titel wie One Piece, Dragon Ball, Naruto und weiteren. Obwohl der Titel abgeschlossen ist, bezieht sich dies nur auf Part 1. Denn wie bei anderen großen Shōnen unterteilt sich Chainsaw Man in verschiedene Sagen und Handlungsbögen (Arcs). Part 1 umfasst die deutschen Bände 01 – 11 und wird „Public Safety Saga“ genannt.
Part 2 startete im Juli 2022 nach einer zweijährigen Schaffenspause. Im Vergleich zu Part 1 wird Chainsaw Man jedoch nicht mehr in der Weekly Shōnen Jump, sondern in der ebenfalls von Shueisha verantworteten Shōnen Jump+ publiziert.
Wieso die Shōnen Jump+ womöglich die Weekly Shōnen Jump ablösen wird, erfahrt ihr hier!
Chainsaw Man – Das blutige Konzept
In einer Welt, in der „Teufel“ unter den Menschen leben und sich von deren Ängsten ernähren, ist unser Held Denji ein junger Mann am Abgrund. Seit dem Tod seines Vaters wächst er in ärmlichen Verhältnissen bei der Yakuza auf und sieht sich selbst als eine Art Jäger. Mit seinem eigenen dämonischen Begleiter, einem kleinen Hund namens Pochita, der eine Kettensäge aus dem Kopf ragt, bekämpft er die Teufel.
Durch das Erlegen dieser Bestien verdient Denji Geld, um die Schulden seines verstorbenen Vaters zu begleichen. Als ein Auftrag plötzlich aus dem Ruder läuft, vereint sich Pochita mit Denji, der daraufhin zu einem Mensch-Teufel-Hybrid wird und sich in den namensgebenden Kettensägen-Mann verwandelt.
Doch bevor Denji das Geschehene überhaupt verarbeiten kann, wird er von der rätselhaften Makima unter ihre Fittiche genommen. Sie ist die Chefin einer öffentlichen Sicherheitstruppe, die aus einer Reihe von einzigartigen Individuen zwischen Mensch und Teufel zusammengesetzt ist.
An dieser Stelle klingt die Prämisse mehr als nur ein bisschen verworren, und sicherlich fällt die Verständlichkeit auch dem rasanten Tempo zum Opfer. Die Erzählung kommt am Anfang schnell in Gang. Bevor man die Situation wirklich im Griff hat, ist man bereits mitten in der Geschichte – aber vielleicht ist gerade das der entscheidende Punkt. Als Leser sind wir Denji gar nicht so unähnlich: Wir werden in eine verworrene und zugleich verlockende Welt hineingestoßen, nehmen aber alles mit einem unwissenden Lächeln hin und lassen uns bereitwillig auf das Abenteuer ein. Es macht Spaß und wirft eine Menge Fragen auf, die beantwortet werden wollen.
Eigentlich ein Shōnen-Allerlei
Schaut man genau hin, ist Chainsaw Man von der Art her gar nicht so unähnlich zu anderen Blockbustern. Das Konzept der Teufel ist in etwa mit den Hollows von Bleach vergleichbar. Teufelsjäger könnten dagegen von den Fähigkeiten her auch genauso gut in My Hero Academia erscheinen. Der größte Unterschied ist allerdings, dass die Teufelsjäger Verträge mit den Teufeln abschließen, um von deren Kraft Gebrauch zu machen. Figuren können dabei direkt mehrere solche Verträge eingehen und entsprechend verschiedene Teufelskräfte erhalten.
Und damit hört es nicht auf, denn auch die Welt und die darin befindlichen Charaktere hat man mindestens schon einmal gesehen: Es gibt den Hitzkopf, den tollpatschigen Sidekick und selbst einen nüchternen, Katana schwingenden Samurai. Das sind in der Tat keine originellen Figuren. Fujimoto versteht es aber, den meisten eine glaubwürdige Hintergrundgeschichte zu geben, wodurch sie lebendiger als in anderen Werken wirken. Allerdings sind viele Nebencharaktere wie die Teufelsjägerin Kobeni Higashiyama zur (gelungenen) Comedy verdammt. Die großen Entwicklungssprünge machen eigentlich nur das Duo um Denji und seine Teufelskollegin Power durch.
Kontrast zwischen Kampf und Alltag
Wichtige Entwicklungen passieren hauptsächlich in der Ruhephase, denn mit zunehmenden Kämpfen verfällt Denji immer mehr in eine Routine. Am Anfang wünscht er sich eine ideale Welt, in der er gemeinsam mit Pochita ein Marmeladenbrot zum Frühstück essen kann. Sobald er aber das „normale Leben“ kennenlernt, wird die tatsächliche Realität für ihn immer unbefriedigender. Er steuert geradewegs auf die Erkenntnis zu, für die die meisten von uns Jahrzehnte brauchen, um sie zu verstehen: Das normale Leben ist scheiße. Jedenfalls die meiste Zeit über.
Kaum Verschnaufpausen bei der Action
Chainsaw Man begeistert bei jeder Veröffentlichung die Fans, die zum Release auf Shōnen Jump+ oder MANGA Plus lesen. Der große Spaß entfaltet sich jedoch erst, wenn man entweder mehrere Bände oder zumindest mehrere Kapitel am Stück liest. Das Erzähltempo ist sehr hoch und es bleibt kaum Zeit zum Verschnaufen. Trotzdem schafft es Fujimoto, die Leserschaft am Ball zu halten.
Viele Storyelemente werden anfänglich nur angedeutet oder am Rande erzählt und erhalten erst an einer anderen Stelle die bedeutende Kennung. Das wirre Konstrukt vom Anfang ergibt erst dann einen großen Sinn, wenn man das Werk wirklich am Stück liest.
Optisch ungeschliffen, aber mit Highlights
Ein Manga muss häufig vor allem zeichnerisch begeistern, damit er überhaupt erst in die Hand genommen wird. Wie sieht es hierbei mit Chainsaw Man aus?
Tatsuki Fujimoto’s Stärken sind definitiv die rasanten Actionsequenzen im Manga sowie seine Art, Surrealismus mit den verschiedensten Zeichentechniken zu verbinden. Fujimoto ist laut eigener Aussage in den Vor- und Nachworten ein großer Horrorfilm-Fan – und das sieht man praktisch überall. Egal, ob es sich dabei um die Gegner, die Teufelsjäger oder andere Dinge handelt, viele Szenen sind als Referenzen zu Klassikern im Horrorbereich angelegt.
Seine skizzenhaften Zeichnungen wechseln dabei zwischen der linearen und kurvilinearen Perspektive ab. Während erstere vor allem bei den ruhigeren Momenten angesetzt wird, sorgt letztere für Tiefe bei den Kämpfen. Es wirkt oft so, als würde man als Außenstehender die Sicht des Charakters einnehmen – quasi Egoperspektive im Manga. Dadurch möchte Fujimoto nicht nur die grandiosen Teufeldesigns hervorheben, sondern auch die mitunter starke Hilflosigkeit der jeweiligen Figur perfekt übertragen.
Das sind natürlich alles Dinge, die man beim dritten oder vierten Mal Anschauen der Mangapanels „versteht“. Es geht jedoch noch weiter. Der Mangaka weiß ganz genau, wie er verschiedene Zeichentechniken für seine Zwecke nutzen kann. Er spielt mit der Auswahl, die ihm zur Verfügung steht. So werden für Comedy-Szenen dünne Linien verwendet, um die ruhigeren Momente hervorzuheben. Gleichzeitig bleiben die Charaktere in der Darstellung realistisch. Den sogenannten Chibi-Stil, der oft bei Shōnen-Manga zu finden ist, sucht man hier vergebens.
Ein Werk voller Kontraste
Im Gegensatz dazu sind die wuchtigen Actionsequenzen mit einem hohen Detailgrad und dicken Linien realisiert, die eine besondere Tiefe im Bild erzeugen. Die bei Mangas üblichen Bewegungslinien, Motion Lines genannt, unterstützen das Ganze und erzeugen eine Dynamik im Zeichenstil, die im letzten Viertel der Geschichte den Lesefluss rapide beschleunigt. Man fliegt quasi durch das Finale des ersten Teils.
Insbesondere im Zuge der späteren Zerstörungsorgie zeigt sich Fujimoto sehr experimentierfreudig. So illustriert er die Zerstörung eines Wohnkomplexes nicht nur durch eine beeindruckende Reihe von Doppelseiten, sondern auch durch die schlichte Aufzählung der vielen Namen von Todesopfern. Ohne Dialoge und Soundeffekte wird damit sehr wirkungsvoll dargestellt, wie umfangreich und brutal diese Liquidation ist.
Wunderschön also? Mitnichten. Oft hat man beim Lesen das Gefühl, nicht genau zu wissen, was da eigentlich vor sich geht. Bei vielen Szenen fehlt es zudem an Schatteneffekten und an organischer Tiefe. Diese kann bedauerlicherweise auch nicht mit der Spielfreude an Perspektiven wegretuschiert werden.
Generell gibt es oft Momente, in denen man praktisch nicht weiß, was überhaupt alles stattfindet. Entweder wegen der verzweigten Erzählstruktur oder weil alles so detailliert gezeichnet ist, dass man erst einmal den Anfangspunkt finden muss, um zu verstehen, was da passiert.
Sehr gute Basis, die Lust auf mehr macht
Alles in allem ist Chainsaw Man mit seinen (bislang) elf Bänden ein sehr guter und blutiger Shōnen-Manga, der es wert ist, gelesen zu werden. Mancher Leser könnte gerade am Anfang vom plumpen Humor sowie der Eindimensionalität der Charaktere abgeschreckt oder gar gelangweilt werden. Überwindet man diese Problematik jedoch, wird man mit einem psychedelischen Trip belohnt. Bei mir gab es etwa ab Band 06 kein Entrinnen mehr. Es ging alles so schnell, ich wollte nicht mehr aufhören zu lesen. Natürlich muss man erst einmal diese Ausdauer haben und es muss „klicken“. Andernfalls kann Chainsaw Man nur scheitern, da die Probleme, die der Titel hat, wohl nur schwer wegzudenken sind.
Ein Wort zum kommenden Anime von Studio MAPPA
Chainsaw Man ist für mich ein sehr guter Manga, keine Frage. In Zeiten von Social Media wird jedoch jeder Titel, der auch nur ansatzweise Potenzial zeigt, als nächster großer Wurf im Anime-Segment angesehen. Während der Manga vor der Anime-Ankündigung als „der nächste große Shōnen“ und „Geheimtipp“ bezeichnet wurde, ist der Bekanntheitsgrad vor allem durch die Anime-Ankündigung inklusive des verantwortlichen Produktionsstudios wie eine Rakete in die Höhe geschossen.
Einerseits freut es mich, dass sich Chainsaw Man durchaus von der Masse an Shōnen abhebt und frischer Wind zwischen all den Fortsetzungen bekannter Marken immer gut ist. Andererseits schürt dieser Hype große Erwartungen gegenüber dem Titel und ich kann mir sehr gut vorstellen, wie viele von der ersten Episode – oder generell von dem Anime – enttäuscht sein werden.
Man darf also gespannt sein, wie die Reaktionen ausfallen werden, wenn der Titel am 11. Oktober auf Crunchyroll seine Simulcast-Premiere feiert.